Matthias Langer


Den Augenblick bedienen (Textauszug)

1
Wir standen nebeneinander an einem Flohmarktstand und schauten uns die Auslagen an, beide ohne eine konkrete Vorstellung, ohne ein bestimmtes Ziel.
Er fragte, ob ich mich als ein Sklave des Augenblicks fühle oder ob ich mir den Augenblick zu eigen mache. Meine Antwort überraschte ihn. Das war unsere erste Begegnung. Sie spielte sich in der Frage ab. Die Frage war unser erstes Treffen. Wir trafen uns in der Frage und verabredeten uns mit der Antwort. Die Antwort war die Vereinbarung, erneut zusammenzukommen.
Unsere nächsten Begegnungen verliefen länger. Dabei war er es, der das Gespräch wieder aufnahm.
Flohmärkte, so begann unser nächstes Treffen, hätten etwas Eigenes, das ihn interessieren würde. Dort kommen Menschen zusammen, die auf Tischen Dinge zeigen. Waren kann man die feilgebotenen Gegenstände nicht nennen. Es sind Dinge, die ehemals in Häusern gehortet wurden. Sie wurden angehäuft und bildeten einen Hort. Ein Hort ist ein Schatz, der behütet wird in einem Haus. Das Haus ist die Hülle, der Schatz das Umhüllte. Die Bewohner sammeln Dinge, häufen sie an, weil sie ihnen wichtig sind. Sie sind es wert, aufgehoben zu werden, werden Teil des Hausstandes - Teil des familiären Lebens. Irgendwann haben sie den persönlichen Wert verloren, man will sich von ihnen trennen. Die wichtigen Gegenstände sind unwichtig geworden. Sie werden weggeworfen oder auf den Flohmarkt gebracht. So wird das Innere nach Außen gekrempelt. Der Schatz liegt offen und schutzlos da, kann bestaunt, begrabbelt, begutachtet werden. Und jedermann kann den Nicht-Mehr-Schatz erstehen. Er ist nichts Besonderes mehr, nicht mehr wert, aufgehoben, das heißt, in Sicherheit gebracht zu werden.
Nicht selten, sagte er, habe er beobachtet, daß am Ende der Marktzeit die angebotenen Dinge von den Verkäufern einfach weggeworfen würden, weil sie nicht einmal mehr die Mühe wert seien, eingepackt und beim nächsten Markt wieder angeboten zu werden. Manchmal wird der Gegenstand vorher gefunden. Dann wird darum gefeilscht und er wird verkauft. Oft hört man den Käufer anschließend sagen: »Der wußte nicht, was er hatte«, und meint den materiellen Wert.
Auch der Käufer weiß nicht - noch nicht - was er jetzt hat. Das Besondere für ihn ist der Akt des Handels und der Erfolg dabei: eine kurze Zeit, die beide bisher miteinander verbracht haben. Das Wertvolle ist für den Käufer der Preis. Das Gekaufte wird zum Symbol der gelungenen Aktion: Je billiger es war, desto höher ist sein Wert. Das Unwichtige hat wieder Gewicht bekommen. Nichts Besonderes eigentlich.
Mit diesem Schlußwort zog er ein Photoalbum aus seinem Mantel hervor. Er sagte, er habe es an dem Tag gekauft, an dem wir uns das erste Mal trafen; deswegen habe er es jetzt dabei. Damals wurde er darauf aufmerksam, weil eine Photographie aus dem Album herausfiel, als er es durchblätterte. Sie wollte, so erklärte er, gesehen werden. Deswegen hat sie den Platz verlassen, den die Photoecken ihr geboten haben. Sie will alleine betrachtet werden; sie will aufgenommen, aufgehoben und in die Hand genommen werden. Und sie möchte ihre Geschichte erzählen. Der Photograph sagt durch die Photographie: »Es war einmal«. Die Photographie sagt: Es ist, und sie erzählt vom Vorher, vom Nachher und vom Zwischendurch. Der Photograph hat versucht, einen Moment festzuhalten und hat ihn dadurch verloren. Er betrachtet das Abbild und sagt: »Damals war das so«. Die Photographie hingegen erzählt uns ihre Geschichte, und wir können die Augen schließen, ihr zuhören und sind mittendrin in der Handlung. Folglich, schob er dazwischen, glaube er auch nicht, daß durch eine photographische Aufnahme ein Schnitt durch die Zeit gemacht werde und eine Photographie das Vergangene zeige. Im Moment der Aufnahme ist die Photographie der Gegenwart ähnlich und danach ist sie sie selbst.
Anschließend möchte sie von sich berichten. Es gab einmal einen Anlaß und einen Grund. Der Grund ist der Boden, auf dem die Saat gestreut und eingeharkt wird. Der Anlaß gibt das Signal zu wachsen. Die Samenkörner platzen auf, beginnen zu keimen, verankern sich im Boden und fangen an zu sprießen. Es entsteht ein Blumenmeer. Langsam wird es sichtbar. Die Pflanzen waren schon einmal hier. Sie erwachsen auf demselben Grund und Boden wie vor einiger Zeit. Damals bedeckte das Blumenmeer den Boden. Der Grund ist die Wiederkehr; die Blumen sind mit dem Acker verbunden wie das Meer mit dem Strand. Es kann nicht weg, es kann sich nicht trennen, es muß immer wieder kommen. Bänder sind geknüpft, die die Zeit überdauern. Die Bänder sind die Jahreszeiten und die Gezeiten. Die Quelle der Ebbe ist der Mond. Er ist ihr Ursprung. Sie gehören zusammen, sie sind einander vertraut wie einzelne Familiemitglieder. Eine Familie wird durch die familiäre Bande zusammengehalten. Sie gehören zusammen wie die Ebbe und der Mond, das Blumenmeer und die geneigte Erdachse. Die Photographie sagt über die Abgebildeten »Sie sind eine Familie«.
Die Photos im Album erzählen von den besonderen Augenblicken, aber die wahren Geschichten werden von dem Papier zwischen den Seiten erzählt. Zwischen den Seiten des Photoalbums kann man das Spinnwebpapier flüstern hören.
Die eine Photographie, sagte er, wollte ihre eigene Sichtweise erzählen. Deswegen hat sie das Sammelbuch verlassen. Sie paßte auch gar nicht hinein; sie sagt »Es ist ein Windhauch über dem Blumenmeer«. Und sie sagt »Es ist eine Spur im Wattenmeer«. Und sie sagt »Es ist ein besonderer Tag und wir sind ein Teil«. Er sagte, die Photographie redete weiter: »Wir sind eine Familie. Wären wir nicht zusammen, hätten wir nichts zu erzählen.« Im Zusammentreffen liegt der Grund. Die Photographie erzählt davon. Sie erzählt eine Mär. Die Begegnung soll den Bund der Familienmitglieder verstärken, soll das Band zeigen, das sie nicht sehen. Das Photo soll sichtbar machen, was unsichtbar ist. Der Ursprung der Photographie ist Unsichtbarkeit. Sie soll das Band zeigen, das die Familie zusammenhält. Und weil sie nicht zeigen will, beginnt sie zu erzählen. Es ist das Gesagte, was sie zeigt eine Sage, eine Geschichte. Die Geschichte, die die Photographie in meiner Hand erzählen würde, beginne mit den Worten »Es sollte sein«, sagte er.

2
Unsere erste Begegnung ist schon weit weg, überdeckt von den folgenden, aber ich erinnere mich noch genau an sein Auftreten. Er trug eine schwarze Arbeitshose, ein weißes Hemd, darüber eine blaue Weste. Eingehüllt war er in einen langen Mantel, dessen genaue Farbe in meiner Erinnerung verblaßt ist. Einzig der Farbton der Weste ist in meiner ansonten unbunten Erinnerung haften geblieben, weil er später einmal auf der genauen Beschreibung des Farbtons bestand: königsblau, wie er es nannte.
Königsblau, sagte er, sei die ideale Farbe zum Malen des Himmels. Für den Himmel hat er immer diesen Farbton benutzt, egal ob die Landschaft von einem grauen oder einem sonnigen Tag erzählt. An grauen Tagen hatte er das Blau mit einem warmen Grau soweit abgetönt, daß nur eine Spur, ein Hauch davon übrig geblieben ist. Und an den schönen Tagen, die bei ihm höchst selten vorkamen, also keine große Rolle spielten, hatte er das Blau des Himmels zur oberen Bildkante mit Indigo abgedunkelt, um dem Himmel Raum zu geben, sich aus dem Rahmen befreien zu können. Zum Horizont hatte er mit feinen Farblasuren gearbeitet, um dem Dunst, dem Schleier der Tiefe, genüge zu tun. ...


»Den Augenblick bedienen«
veröffentlicht in: »Momente der Ähnlichkeit«, Künstlerbuch, Appelhans-Verlag, ISBN 3-937664-25-4
und als Auszug in »Das Schreiben der Bilder« hrsg. von Michael Glasmeier, Matthias Langer, Agnes Prus, Salon Verlag, ISBN 3-98770-212-6