Matthias Langer


Die Verwischte Photographie (Textauszug)

In der übersichtlichen Weite einer Tiefebene steht hinter einer Kiefer ein einsames Haus. Es ist das einzige Gebäude in der Gegend, und die Kiefer ist der einzige Baum in dessen Nähe. Ein zufällig vorbeikommender Wanderer kann es schon von weitem sehen. Das Haus hat es mittlerweile aufgegeben, sich in seiner Umgebung, in der Landschaft, die es umgibt, zu verstecken. Stolz steht der Backsteinbau hochgewachsen an seinem Ort, an dem Platz, der ihm einmal zugewiesen wurde. Ein Platz am Rande der Landschaft. Damals wurde das Haus als Ebenbild eines Turmes auf dem kleinen Fundament einer Fischerkate gebaut. Es markiert die Spitze dieses Landstrichs, es ist sein Grenzstein. Vor dem Haus steht das Wartehäuschen einer Bushaltestelle, an der damals wie heute kein Bus mehr hält. Das erfuhr der Fragende, der sich nach den Verbindungen erkundigt hatte, von Benjamin.
Heute habe ich Benjamin gesucht, aber ich konnte ihn nicht finden. Früher war er immer im Haus oder wanderte an das Ende der Landschaft. Vor Sonnenuntergang kehrte er stets zurück. Ich habe bis zum späten Abend gewartet, bis es dunkel war, aber er ist nicht heimgekommen.
Damals schauten wir jeden Abend aus dem Fenster und sahen dem Tag hinterher. Von unserem Haus, dem Turm, hatten wir die Übersicht, die wir uns wünschten. »Der Vorteil der flachen Landschaft ist, daß man keine Überraschungen erlebt«, sagte Benjamin. »Nicht einmal der Tag kann sich unbemerkt verstecken, ebenso ist es der Nacht nicht möglich, unvorhergesehen in das Geschehen hineinzuplatzen«. Alles hier war geordnet und hatte seine Regelmäßigkeit. Alles hatte einen festen Platz zugewiesen bekommen.
Wenn die Dunkelheit die Sicht auf die Erde nahm und nur noch den Blick auf die Sterne zuließ, zogen wir uns zurück. Benjamin ging in sein Zimmer und ich in einen völlig verdunkelten Raum, so dunkel, daß man meinen konnte, ich wolle nie wieder das Licht der Welt erblicken, als hätte ich den ewigen Wechsel von Tag und Nacht satt. Da ich mich für eines entscheiden mußte, habe ich mich für das Dunkle entschieden. Man kann sich mit geschlossenen Augen am besten entspannen und das Unwichtige vergessen.
Heute weiß ich nicht, wie es damals um mich stand. Mittlerweile bin ich mir nicht einmal mehr sicher, ob ich überhaupt noch existiere. Daß ich existent war, weiß ich, denn es gibt ein Photoalbum von mir, das aber abrupt endet. Das letzte Bild zeigt mich im Alter von dreizehn Jahren, ein Geschenk auspackend. Danach kommen nur noch unbeklebte, leere Seiten. Als ich dreizehn Jahre alt war, bekam ich einen Photoapparat geschenkt. Seitdem stehe ich auf der anderen Seite, auf der falschen. Ich werde nicht mehr photographiert. Es gibt keine neuen Photos mehr, in denen ich mich verstecken kann. Schutzlos bin ich dem flüchtigen Augenblick ausgeliefert; nichts hält mich fest. Ein Teil von mir lebt in den alten Photographien weiter, und so bin ich seit Jahren damit beschäftigt, dieses Geschenk auszupacken: Dieser Augenblick gehörte zu den glücklichen meines Lebens. Deswegen wurde photographiert. Und so werden die einzelnen Momente eines Lebens festgehalten. Schöne Momente, erinnerungswürdige Augenblicke, bedeutende Ereignisse werden abgelichtet, entwickelt, vergrößert und abgelegt. Photos klebt man in Alben, in Sammelbücher. Blättert man sie durch, kehren die Episoden der Vergangenheit in die Gegenwart zurück. Das Vergangene wird im Zeitraffer wiederholt. Die einzelnen Szenen spielen sich auf den jeweiligen Seiten ab. Sie erzählen Geschichten, die aus dem Leben herausgegriffen wurden. Die Überblendung der einzelnen Seiten, die Aneinanderreihung der Geschichten ergibt das Bild, das das Leben sein kann.
»Ein Bild lädt ein, noch einmal zu leben«, sagte Benjamin. So wie es scheint, staut der verschenkte Photoapparat den Lauf der Zeit. Und ich packe immer noch dieses Geschenk aus.
Das war ungefähr auch die Zeit, in der ich Benjamin das erste Mal traf. Wir begegneten uns auf der Straße vor meinem Elternhaus. Er schien auf etwas zu warten: auf das Eintreffen eines Ereignisses. Ich ging an ihm vorbei, ohne ihn besonders zu beachten. Damals hatten wir uns noch nicht viel zu sagen.
Das Bild eines Menschen ist seine eigene Geschichte, die aus dem Gegebenen und den Episoden entsteht. Das Vorgegebene ist das Fundament, das die Form bestimmt, das Plusquamperfekt. Das Vergangene ergibt Schicht für Schicht das Bild. Blättert eine Schicht ab, kommt ein anderes Bild zum Vorschein, so wie ein neuer Name entsteht, wenn Buchstaben wegfallen. Im günstigsten Fall bleiben die Initialen über. Ich weiß nicht, wie mein Name heute geschrieben aussieht, was von ihm noch zu sehen ist. Und noch viel weniger habe ich Gewißheit darüber, wie mein Name damals aussah, als ich mit Benjamin zusammen in dem Turm am Ende der Landschaft wohnte.
Was passiert, wenn die Menschen nicht mehr photographiert werden? Verschwinden sie dann aus der Öffentlichkeit? Die Photographie könnte eine Droge sein, die körperlich abhängig macht. Abhängig von den gemachten und von den zu machenden Bildern. Nicht ohne Grund wird vor dem Bildermachen schon seit langem gewarnt. »Schließlich kann man Dinge einfach wegphotographieren«, sagte Benjamin. Als ich in dem Turm wohnte, wurde mir zum ersten Mal bewußt, daß ich von der Obrigkeit nicht beachtet werde. Irgendwann hat sie mich vergessen - so wie man einen Regenschirm im Bus vergißt, weil es aufgehört hat zu regnen. Und seitdem hat sie mich nicht wiedergefunden. Sie erinnert sich nicht mehr an mich.

Benjamin und ich widmeten uns damals jeden Abend dem vergangenen Tag. Dafür zogen wir uns in unsere Kammern zurück. Wir brachten ihn in eine Ordnung, in unsere Ordnung. ...


»Die verwischte Photographie« veröffentlicht in: »Momente der Ähnlichkeit«, Künstlerbuch, Appelhans-Verlag, ISBN 3-937664-25-4