Matthias Langer


Über Wasser (Textauszug)

Das Meer, die Weite, ist eine unmittelbare Empfindung des absoluten Glücks. Wenn man es sieht, steigt einem das Wasser in die Augen, und man behält diesen Eindruck für immer in sich. Es ist ein besonderes Bild, ein einzigartiger Klang, ein spezieller Geruch und es hat den Geschmack von Tränen; es sind Dinge, die einen nicht mehr loslassen.

»Diese eine Liebe wird nie zu Ende gehen. Deswegen habe ich beschlossen, an die See zu fahren, um mir wieder den nassen Teil der Welt anzusehen. Das ist eine meiner Arten, den Trübsinn zu verjagen.«

II
Ein einsamer Segler kämpt gegen die blaue Macht des Wassers und des Windes. Eine Blume schwebt über der Szenerie, und ein Narr betrachtet alles - auch den Photographen - grinsend von der anderen Straßenseite (Abb. 1). Dieser sitzt an einem Tisch in der Sonne und trinkt sein erstes Pint an diesem Tag. Eine Frau, die auf einer Mondsichel sitzt, liegt auf dem Tisch vor ihm (Abb. 2). Der Photograph beobachtet das Spiel vom Sehen und Gesehen werden, und es kommt ihm seltsam bekannt vor.

III
Der Vorhang geht auf, die Kameras werden gezückt, es blitzt; ein Narr betritt die Bühne.

»Ich bin wie immer nur ein Zuschauer«, sagt er, und sitze im Publikum und blicke auf die Bühne.« Nichts läßt erkennen, was er ist. Seine Kleider zeigen keine typischen Ausbuchtungen, in denen sich eine Kamera verstecken könnte; er hat keine Kameratasche, keinen Kamerakoffer dabei. Er hat nicht einmal eine Kamera mitgenommen; seine Freunde machen sich manchmal über ihn lustig. »Du bist der einzige Fotograf, der nicht fotografiert«, sagen sie. Es entspricht nicht seiner Auffassung von Photographie. Er unterscheidet zwischen Photographie und Fotografie. Fotografie ist für ihn der allgemein übliche Umgang mit diesem Medium. »Dazu kann ich nichts sagen«, sagt er, Adenn ich fotografiere ja nicht.« Schließlich wisse jeder selbst am besten, was man unter Fotografie verstehe. Deshalb brauche er (der Photograph) auch nichts zu sagen, und wenn jemand das Wort knipsen benutzen möchte, habe er auch nichts dagegen. Das, was er mit Fotografie meine, so könne man sagen, verstehe sich von selbst.
Er bevorzugt die alt anmutende Schreibweise. »Ich bevorzuge die alte Schreibweise«, erklärt er, ada in ihr die Herkunt deutlich wird: das Zeichnen mit Licht.« Nicht, daß er besonders konservativ sei, nein, aber er habe es schon erlebt, daß er als altertümlicher Photograph bezeichnet worden sei. Natürlich sieht er wie ein Relikt aus einer anderen Zeit aus, wenn er sich ein schwarzes Tuch über den Kopf zieht, um mit dem Motiv allein zu sein.

Der Vorhang geht auf, die Kameras werden gezückt, es blitzt; ein Narr betritt die Bühne, der Photograph sitzt im Publikum. Von der Bühne aus betrachtet er erst einmal das Publikum, das seinen Blick voller Erwartung erwidert. Der Narr auf der Bühne beginnt, nachdem er seine Betrachtung abgeschlossen hat, in seiner Latzhose zu graben; er zieht ein Kopfkissen hervor, das vorher noch so eine Art Bauchvorsatz, Bauchpolsterung oder Bauchprothese war. Er setzt sich im Schneidersitz darauf, macht es sich gemütlich und betrachtet das Publikum von neuem. Da die Situation ihm so, wie sie ist, gefällt und es offensichtlich auf dem Kissen bequem ist, intensiviert er die Beobachtung des Publikums. Die Bühne wird zum Fenster oder zum Fernseher. Und weil die Zuschauer, die Anschauer und Angeschauten, auch nichts anderes machen als zu schauen, beginnt der Narr, sich die Zeit zu vertreiben. Davon hat er genug. Er zieht eine Banane aus der Hosentasche und macht das, was man mit Bananen nun einmal macht, er ißt sie ganz normal und betrachtet dabei das Publikum. Das Publikum schaut auf die Bühne und sieht einen Narren eine Banane essen.
Da dies bei einer feierlichen Verabschiedung und nicht in einem Zirkus stattfindet, erwartet das Publikum auch keine Späße, sondern eine Rede. Und wegen eben dieser Erwartung wartet das Publikum geduldig darauf. So stört es auch nicht im geringsten, daß nach der kleinen Zwischenmahlzeit die Betrachtung des Publikums kein Ende hat und die Rede auch nicht beginnt. Das Spiel vom Sehen und Gesehen werden, Anschauen und Angeschaut werden setzt sich fort.
Als es nach einiger Zeit dem Narren doch etwas langweilig wird, versucht er einen Kopfstand auf dem Kissen. Es bleibt ein Versuch und gelingt nicht. Er versucht es wieder und scheitert erneut. »Sollte ich nach dreizehn Jahren Schule die wichtigen Dinge des Lebens immer noch nicht beherrschen?« fragt er kopfschüttelnd sich und das Publikum. Nach einer kurzen Pause, Zeit des Nachdenkens, des Beobachtens und Beobachtet werden, versucht er es von neuem. Irgendwann gelingt das Vorhaben, der Narr steht kopf und beginnt mit der Betrachtung des Publikums, das applaudiert und kopfsteht. Der Narr folgt dem Prinzip der Umkehrung, er stellt die Dinge auf den Kopf oder vom Kopf auf die Beine. Kehrt man etwas um, weiß man nicht mehr mit Sicherheit, wo oben und wo unten ist, was richtig und was falsch ist. Der Narr hat eine Maske, eine Narrenkappe, die ihm diese Freiheit gibt. Irgendwann nimmt er dann wieder die alte Beobachterpose auf dem Kissen ein, setzt die Beobachtung des Publikums fort und beginnt zu vergleichen. »Sie sollten die Welt einmal aus einer anderen Perspektive betrachten.«

Und wir notieren:
1. Die Welt einmal aus einer anderen Perspektive betrachten.

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»Über Wasser« bisher unveröffentlicht